Eine verhaltensökonomische Perspektive auf das Coronavirus: Knappe Ressourcen und der Wert eines Menschenlebens #MoralDilemma

Zettel im Restaurantfenster "Wem wird geholfen und wem nicht?"

 

30.04.2020, von Ann-Kathrin Crede

In unseren bisherigen Beiträgen zu Verhaltensökonomik und Coronakrise haben wir uns mit #StayHome als Beitrag zu einem öffentlichen Gut, der Psychologie von Hamsterkäufen, der grossen Wirkung von kleinen Massnahmen und der Rolle von Referenzpunkten für die Wahrnehmung der Lockerungsmassnahmen beschäftigt. Im nachfolgenden Beitrag geht es um den Konflikt zwischen knappen Ressourcen und dem unantastbaren Wert eines Menschenlebens.

Der Ursprung des Wirtschaftens

Die Ökonomie ist die Lehre vom Umgang mit knappen Ressourcen. So beinhaltet im Grundsatz jedes ökonomische Problem die Aufgabe, die theoretisch unbegrenzten menschlichen Bedürfnisse mit begrenzten Mitteln zu befriedigen. Das Ziel dabei ist, eine möglichst effiziente Zuteilung («Allokation») der Ressourcen vorzunehmen. In der derzeitigen Krise sind solche Allokationsentscheidungen von besonderer Bedeutung:

  • Ende März hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) Richtlinien zur Triage auf Intensivstationen herausgegeben, um medizinischem Personal Hilfestellung zu geben. Konkret geht es um die Frage, welcher Patient im Zweifelsfall an ein Beatmungsgerät angeschlossen wird und welcher nicht.
  • Um die wirtschaftlichen Folgen des Lockdown abzufedern, hat der Bundesrat ein umfangreiches Massnahmenpaket verabschiedet. Auch hier geht um die Allokation eines begrenzten Budgets. So galt zwischenzeitlich die Regel, dass lediglich jene Selbstständigen Entschädigungen erhalten, die nicht mehr arbeiten dürfen (z.B. Coiffeure). Solche, die zwar noch arbeiten dürften, aber keine Kunden mehr haben, hingegen nicht (z.B. Taxifahrer). Dies hat der Bundesrat mittlerweile angepasst.
  • Zunehmend wird auch gefordert, den direkten Nutzen des Lockdown ins Verhältnis zu sämtlichen ökonomischen, sozialen und psychologischen Folgekosten zu setzen. So kann der Lockdown einerseits Menschen vor dem Tod durch eine Covid-19-Erkrankung bewahren, gleichzeitig aber auch psychische und gesundheitliche Probleme begünstigen und somit Menschenleben gefährden.

Ein moralisches Dilemma

Die skizzierten Allokationsentscheidungen stellen alle ein moralisches Dilemma dar, weil Leid nicht verhindert werden kann, egal wie man sich entscheidet. Aus philosophischer Sicht können zwei Prinzipien herangezogen werden, um eine Handlung zu bewerten:

  • Gemäss dem Prinzip der Deontologie bemisst sich der Wert einer Handlung nach der damit verbundenen Handlung selbst (Kant 1785). Daraus leiten sich absolute und unantastbare Rechte und Pflichten des Menschen ab. Demnach darf ein Mensch nicht getötet werden, auch wenn dadurch mehrere Menschenleben gerettet werden könnten. Menschenleben können folglich nicht gegeneinander abgewogen werden.
  • Nach dem Prinzip des Utilitarismus bemisst sich der Wert einer Handlung nach ihren Konsequenzen (Mill 1863). Daraus folgt die Maxime, Nutzen und Kosten einer Handlung abzuwägen und diejenige zu wählen, die das beste Gesamtergebnis erzielt. Demnach darf ein Mensch getötet werden, wenn dadurch mehrere andere Personen gerettet werden können. Menschenleben können folglich gegeneinander abgewogen werden.

Verhaltensexperiment: Unterschiede zwischen Ländern

Auf die Frage, ob Menschenleben gegeneinander abgewogen werden dürfen, gibt es keine allgemeingültige Antwort. Beide genannten Prinzipien haben ihre Daseinsberechtigung. Nach welchen Kriterien aber wägen wir zwischen verschiedenen Menschenleben ab, wenn wir keine andere Wahl haben? Dies haben Awad et al. (2018) in einem gross angelegten Verhaltensexperiment untersucht, in dem sie Daten zu knapp 40 Mio. Entscheidungen in 233 Ländern gesammelt haben. In ihrem sogenannten Moral Machine Experiment wurden Versuchsteilnehmende gefragt, wie autonome Autos ein moralisches Dilemma lösen sollen, wenn ein Unfall nicht vermeidbar ist. Konkret wurde den Teilnehmenden ein Unfallszenario mit zwei möglichen Ausgängen gezeigt, wovon sie ihren präferierten Ausgang wählen sollten. Weltweit zeigten Teilnehmende eine starke Präferenz, Kinder statt ältere Menschen zu retten. Zudem zeigten sich kulturelle Unterschiede: Teilnehmende aus der Schweiz zeigten lediglich eine schwache Präferenz, eher gesunde Menschen zu retten. In einem Ranking von 117 Ländern belegten sie bei dieser Entscheidung Platz 84. Ähnlich entschieden Teilnehmende aus Deutschland (Platz 73), Finnland (Platz 80) oder Österreich (Platz 81). Diesen Ländern ist gemein, dass ihr gesellschaftlich verankertes Menschenbild deontologisch geprägt ist, die Würde eines jeden Einzelnen folglich im Zentrum steht. Grossbritannien hingegen belegte in diesem Ranking Platz 16, was damit erklärt werden kann, dass das utilitaristische Gedankengut im angelsächsischen Raum stark vertreten ist.

Offene Diskussion wagen

Um politische Massnahmen zu evaluieren, ist es durchaus üblich, eine implizite Bewertung des Lebens – des sogenannten statistischen Lebens – vorzunehmen. So können etwa die Kosten pro gerettetes Leben aus Massnahmen im Strassenverkehr mit Umweltschutzmassnahmen verglichen werden (Schleiniger, Blöchliger 2016). Im Gesundheitsbereich wird überprüft, ob eine medizinische Behandlung wirtschaftlich ist, Aufwand und Heilerfolg also im Verhältnis stehen. So hat das Bundesgericht 2010 eine Obergrenze von 100 000 Franken pro gerettetes Lebensjahr ausgesprochen. Die Kosten pro gerettetes Lebensjahr durch den derzeitigen Lockdown hingegen dürften sich auf ein Vielfaches belaufen.

Wie viel Geld ein Menschenleben letztlich kosten darf, mag eine heikle Frage sein. Ebenso, ob Menschenleben gegeneinander abgewogen werden können oder nicht. Unbeachtet von diesen Fragen findet schon jetzt eine Abwägung und Priorisierung der Interessen unterschiedlicher Personengruppen statt, ohne dass wir uns dessen bewusst sein mögen. Wieso dann nicht eine offene Diskussion darüber führen?

 

Quellen:

Awad, E., Dsouza, S., Kim, R., Schulz, J., Henrich, J., Shariff, A., Bonnefon, J.-F. & Rahwan, I. (2018). The moral machine experiment. Nature, 563(7729), 59-64.

Kant, I. (1785). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. J. F. Hartknoch Verlag.

Mill, J. S. (1863). Utilitarianism. In: Seven Masterpieces of Philosophy, pp. 337–383.

Schleiniger, R., & Blöchliger, J. (2006). Der Wert des Lebens: Methoden, Empirie, Anwendungen. Working Paper, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

 

Haben Sie Feedback oder Fragen? Bitte wenden Sie sich direkt per Mail an die Autorin oder liken/kommentieren/sharen Sie auf Linkedin.

Zurück