Eine verhaltensökonomische Perspektive auf das Coronavirus: Referenzpunkte und die Wahrnehmung der Lockerungen #ExitStrategy

Leute stehen auf der Strasse an

 

23.04.2020, von Ann-Kathrin Crede

In unseren bisherigen Beiträgen zu Verhaltensökonomik und Coronakrise haben wir uns mit #StayHome als Beitrag zu einem öffentlichen Gut, der Psychologie von Hamsterkäufen und der grossen Wirkung von kleinen Massnahmen beschäftigt. Im nachfolgenden Beitrag geht es um die Frage, wie wir die schrittweise Lockerung der Massnahmen zum Schutz vor dem neuen Coronavirus wahrnehmen und was das mit Referenzpunkten zu tun hat.

Schrittweise Lockerung der Massnahmen

Es ist nun mehr als fünf Wochen her, dass der Bundesrat die ausserordentliche Lage in der Schweiz erklärt hat (16.03.2020). Die beschlossenen Massnahmen haben mittlerweile Wirkung gezeigt: das Virus verbreitet sich nicht mehr exponentiell, die Zahl der Neuinfektionen ist rückläufig. Gleichzeitig wächst in der Bevölkerung eine gewisse Ungeduld und der Ruf nach Lockerungen wird lauter. Mit grosser Spannung wurde daher die Bekanntgabe der Exit-Strategie des Bundesrates am 16. April erwartet. Diese beinhaltet, dass Spitäler ab dem 27. April wieder sämtliche (auch nicht-dringliche) Eingriffe vornehmen, Coiffeur-, Massage- und Kosmetikstudios ihren Betrieb wieder aufnehmen, und Baumärkte und Blumenläden öffnen können. Obligatorische Schulen und übrige Läden sollen ab dem 11. Mai, Hochschulen, Museen und Bibliotheken ab dem 8. Juni wieder öffnen. Gleichzeitig betont das Bundesamt für Gesundheit, es sei wichtig, dass jede/r Einzelne/r weiterhin die Hygiene- und Verhaltensregeln befolge und wenn möglich zu Hause bleibe. Das öffentliche Leben soll sich also schrittweise normalisieren. Bis wir so leben können wie vor der Krise, wird es aber noch eine ganze Weile dauern.

Besser oder schlechter? Eine Frage des Referenzpunktes

Die verhaltensökonomische Forschung hat gezeigt, dass Menschen sogenannte Referenzpunkt-abhängige Präferenzen haben, d.h. sie bewerten ein Ergebnis nicht alleinstehend, sondern im Verhältnis zu einem Referenzpunkt als Gewinn oder Verlust (Tversky, Kahnemann 1979). So wird beispielsweise eine Gehaltserhöhung nicht absolut bewertet, sondern im Vergleich zu einer Art «Nullpunkt», dem Referenzpunkt. Der Referenzpunkt kann auf unterschiedlichen Grössen basieren. Zunächst einmal kann er durch den aktuellen Zustand bestimmt werden (Status quo). Verdient ein Arbeitnehmer bei Stellenantritt CHF 65 000 und im zweiten Jahr CHF 68 000, so stellt dies nicht nur eine absolute Gehaltserhöhung dar, sondern wird auch tatsächlich als Gewinn wahrgenommen. Der Status quo als Referenzpunkt liefert in diesem Beispiel ein sehr intuitives Ergebnis. Anders verhält es sich, wenn der Referenzpunkt durch Erwartungen gebildet wird. Erwartet der Arbeitnehmer etwa, dass er im dritten Jahr CHF 75 000 verdient, bekommt dann aber lediglich CHF 72 000, so wird er die absolute Gehaltserhöhung relativ zu seinen Erwartungen als Verlust wahrnehmen. Denn schliesslich ist die tatsächliche Erhöhung kleiner ausgefallen als erhofft. Einen weiteren Referenzpunkt kann die Situation anderer Leute bilden. So würde sich der Arbeitnehmer in unserem Beispiel zwar prinzipiell über eine Gehaltserhöhung von 5% freuen. Erfährt er aber, dass sein Arbeitskollege bei sonst gleichen Rahmenbedingungen 10% mehr Gehalt bekommt, so kann diese neue Information den Referenzpunkt verschieben und aus einem tatsächlichen Gewinn einen empfundenen Verlust entstehen lassen. Nicht ohne Grund behandeln Unternehmen Informationen zu Gehältern meistens vertraulich.

Wir können mitentscheiden

Einerseits haben sich viele von uns an die derzeitige Situation und die damit verbundenen Massnahmen gewöhnt. So kann es fast unwirklich erscheinen, im Fernsehen die Aufzeichnung eines Sportevents oder Konzerts zu schauen, sind dort doch so viele Menschen zu sehen, die nicht genug Abstand voneinander halten. Andererseits ist der neue Alltag mit all den Einschränkungen eine Situation, an die wir uns gar nicht gewöhnen möchten. So erscheint die Vorstellung, bald wieder alle Freiheiten zurück zu haben, als etwas sehr Erstrebenswertes.

Wie wir die Lockerungen wahrnehmen, hängt auch davon ab, was unser Referenzpunkt ist:

  • Ist der Referenzpunkt der Status quo, also unsere derzeitige Situation, so stellen die Lockerungen eine Verbesserung und somit einen Gewinn dar;
  • Basiert unser Referenzpunkt auf dem historischen Zustand vor dem Ausbruch des Coronavirus, so müsste die Bilanz eher schlecht ausfallen: Die derzeit geltenden Massnahmen schränken uns immer noch ein und bedeuten einen Verlust;
  • Ausserdem kann die Bewertung der Lockerungen von unseren Erwartungen bezüglich einer möglichen Exit-Strategie abhängen. Sind wir davon ausgegangen, dass die Massnahmen unverändert fortbestehen und Lockerungen vorerst nicht in Frage kommen, so dürften wir positiv überrascht worden sein und die Lockerungen als Gewinn sehen. Haben wir hingegen erwartet, dass es schneller gehen würde, dürften wir trotz der Lockerungen einen Verlust empfinden. Das Ziel, keine zu hohen Erwartungen in der Bevölkerung zu wecken, könnte auch das eher defensive Vorgehen des Bundesrates erklären, das zuletzt immer wieder kritisiert wurde;
  • Schliesslich könnte die Wahrnehmung der Lockerungen vom Vorgehen anderer Länder abhängen. Vergleichen wir unsere Situation zum Beispiel mit jener in Österreich (bereits zahlreiche Lockerungsmassnahmen umgesetzt), fällt die Bewertung eher ernüchternd aus. Bildet der Referenzpunkt aber etwa ein Land wie Spanien (Ausgangssperre bis zum 9. Mai verlängert), so werden wir uns glücklich schätzen.

Wie wir unsere aktuelle Lage bewerten, kann also individuell sehr verschieden sein. Aus gesellschaftlicher Sicht lautet die gute Nachricht: den Referenzpunkt können wir bis zu einem gewissen Grad selbst setzen, und somit unseren Blick auf die derzeitige Situation (positiv) beeinflussen.

 

Quellen:

Tversky, A., & Kahneman, D. (1979). Prospect theory: An analysis of decision under risk. Econometrica, 47(2), 263-291.

 

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