Anreizwirkung der pauschalen Abgeltung für die Rechtsvertretung im Asylverfahren
12.09.2023, Helmut Dietl, Christian Jaag
Seit März 2019 haben Personen, welche in der Schweiz ein Asylgesuch stellen, Anspruch auf unentgeltliche Rechtsvertretung und -beratung. Die Entschädigung der Rechtsschutzakteure erfolgt pauschal: Pro asylsuchende Person bezahlt der Bund dem Rechtsschutzakteur eine Pauschale von rund CHF 2000. Diese Pauschale umfasst sämtliche Dienstleistungen für das erstinstanzliche Verfahren vor dem Staatssekretariat für Migration sowie auch für eine allfällige Beschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVGer). Das Mandat der Rechtsvertretung endet, wenn die unentgeltliche Rechtsvertretung wegen Aussichtslosigkeit nicht gewillt ist, eine Beschwerde einzureichen, bzw. im Falle einer Beschwerdeerhebung ans BVGer nach dem (positiven oder negativen) Entscheid des BVGer.
Das System der unentgeltlichen Rechtsvertretung hat zum Zweck, allen Asylsuchenden in der Schweiz einen Zugang zur Justiz zu gewähren und ihnen damit die Möglichkeit zu geben, ihre Rechte gerichtlich durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund schafft das Vergütungssystem für die Rechtsvertretung im Asylverfahren Fehlanreize. Insbesondere führt es dazu, dass die Leistungsanreize für die Rechtsvertretung gering sind und in aussichtsreichen Fällen zu wenig Beschwerdeverfahren geführt werden.
Diese Problematik lässt sich anhand der Prinzipal-Agenten-Theorie systematisch erläutern, da die Beziehung zwischen Asylsuchenden einerseits und ihrer Rechtsvertretung andererseits einer typischen Prinzipal-Agenten-Beziehung entspricht. Die Asylsuchenden nehmen dabei die Rolle des Prinzipals ein. Die Rechtsvertretung findet sich in der Rolle des Agenten wieder, der für den Prinzipal handelt. Wir haben es also mit einer Situation zu tun, in der die Rechtsvertretung Entscheidungen und Handlungen trifft, die direkt das Wohlergehen des Prinzipals beeinflussen. Somit fallen also Handelnder und Betroffener personell auseinander. Die Rechtsvertretung
entscheidet und handelt für die Asylsuchenden, die von diesen Entscheidungen und Handlungen betroffen sind.
Wenn alle vollkommenes Wissen hätten, gäbe es keine Prinzipal-Agenten-Probleme. Dann bräuchten die Asylsuchenden auch keine Rechtsvertretung, da sie ja dann selbst das erforderliche Rechtswissen hätten. Prinzipal-Agenten-Probleme entstehen erst bei unvollkommenem Wissen, insbesondere wenn das begrenzte Wissen ungleich verteilt ist. Wenn die Asylsuchenden kein ausreichendes Rechtswissen haben, brauchen sie entsprechende Experten, die als Agent in ihrem Auftrag entscheiden und handeln.
Hierdurch entsteht aber ein Vertrauensproblem. Die Asylsuchenden müssen darauf vertrauen, dass ihre Rechtsvertretung für sie die besten Entscheidungen trifft. Da den Asylsuchenden selbst das notwendige Rechtswissen fehlt, können sie die Entscheidungen und Handlungen ihrer Rechtsvertretung nicht beurteilen.
Durch den Wissensvorteil der Rechtsvertretung entsteht ein diskretionärer Entscheidungs- und Handlungsspielraum, den die Rechtsvertretung zu ihrem persönlichen Vorteil nutzen kann. Dies ist typisch für Prinzipal-Agenten-Beziehungen. Der Agent beauftragt den Prinzipal ja gerade deshalb, weil dieser einen Wissensvorsprung auf dem betreffenden Gebiet besitzt. Das infolge des bestehenden Wissensvorsprungs zwangsläufig entstehende Vertrauensproblem versucht man durch entsprechende Anreize und Kontrollmechanismen zu begrenzen. Beispielsweise verhindert ein leistungsabhängiger Lohn, dass ein Arbeitnehmer (der Agent) nur vorgibt, sich anzustrengen, tatsächlich aber keinerlei Anstrengungen unternimmt, seinem Arbeitgeber (dem Prinzipal) nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen.
Im vorliegenden Fall erhält die Rechtsvertretung die Vergütungspauschale unabhängig von der tatsächlich erbrachten Leistung. Damit besteht für eigennützig handelnde Rechtsvertretungen kein unmittelbarer Vergütungsanreiz sich anzustrengen. Dieser fehlende unmittelbare Vergütungsanreiz könnte durch mittelbare Leistungsanreize kompensiert werden. Beispielsweise führen Reputationseffekte in vielen Prinzipal-Agenten-Beziehungen dazu, dass der Agent ein grosses Eigeninteresse hat sich anzustrengen. Diese Reputationseffekte wirken überall dort, wo der Agent den Nutzen, den er für den Prinzipal erbracht hat, anderen potenziellen Prinzipalen kommunizieren kann.
In solchen Situationen ersetzt der Reputationsgewinn den unmittelbaren Vergütungsanreiz. Im vorliegenden Fall hätte demzufolge die Rechtsvertretung selbst dann einen Anreiz, sich anzustrengen, wenn die Vergütung nicht unmittelbar an das Ergebnis der Anstrengungen gekoppelt ist. Der Anreiz, sich anzustrengen, um die Erfolgswahrscheinlichkeit zu maximieren, besteht in dem Reputationsgewinn, den die Rechtsvertretung im Erfolgsfall erzielt. Die gewonnene Reputation erhöht in einem freien Wettbewerbsmarkt die Wahrscheinlichkeit, weitere Aufträge von potenziellen Prinzipalen zu erhalten.
Im vorliegenden Fall werden diese Reputationseffekte allerdings unterbunden, da die Asylsuchenden keine Freiheit bei der Auswahl der Rechtsvertretung besitzen. Ein erfolgreicher Rechtsvertreter erhält also nicht automatisch mehr Aufträge. Insgesamt fehlen also sowohl die unmittelbaren Leistungsanreize einer erfolgsabhängigen Vergütung als auch die mittelbaren Leistungsanreize durch Reputationseffekte.
Empirisch zeigt sich dieses Problem am deutlichsten an der geringen Anzahl von Beschwerden. Zahlreiche Mandate werden niedergelegt, obschon sie nicht aussichtslos sind: Zwischen März 2019 und Februar 2020 wurde vom «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» in 42 Fällen eine Beschwerde an das BVGer eingereicht, nachdem diese von der unentgeltlichen Rechtsvertretung niedergelegt worden waren. Das BVGer beurteilte davon 25, also 60 Prozent, als nicht von vornherein aussichtslos. Diese Fälle hätten somit von der unentgeltlichen Rechtsvertretung nicht niedergelegt werden dürfen.
Da das Abfassen einer Beschwerdeschrift bereits über die Pauschale vergütet wird, verursacht das Abfassen der Beschwerdeschrift aus Sicht der Rechtsvertretung nur zusätzliche Kosten, denen keine zusätzliche Vergütung gegenübersteht. Auch der mögliche Reputationsgewinn infolge einer erfolgreichen Beschwerde bringt in dem hochregulierten Markt keinen Zusatznutzen. Deshalb überrascht es nicht, dass selbst in aussichtsreichen Fällen kaum Beschwerden geführt werden.
Um die geschilderten Probleme zu lösen, müsste das gegenwärtige System reformiert werden. Die Vergütung müsste an die Leistung gekoppelt werden. Eine Möglichkeit dazu wäre, für das Beschwerdeverfahren eine separate Entschädigung vorzusehen. Theoretisch könnte diese nur bei erfolgreichem Ausgang ausbezahlt werden, wobei die Festlegung der angemessenen Höhe in der Praxis problematisch sein dürfte. Einfacher umsetzbar scheint es, das Gericht vorab entscheiden zu lassen, ob die Beschwerde als aussichtslos oder nicht einzustufen ist; für aussichtslose Fälle wird keine Entschädigung gewährt. Sollte dies nicht oder nur eingeschränkt möglich sein, müssen sich zumindest die Reputationseffekte besser entfalten können, zum Beispiel durch die Wahl der Rechtsvertretung durch die Asylsuchenden selbst. Eine reine Erhöhung der Pauschale würde hingegen an den Anreizwirkungen nichts ändern und kaum zu mehr (aussichtsreichen) Beschwerdeverfahren führen.
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